Auch am tansanischen Dekolonisierungsprozess, der 1961 in der Unabhängigkeit Tanganjikas mündete, hatte die Mission ihren Anteil im Rahmen von Missionsschulen. Die Ausbildung dort versetzte viele Anführen*innen der Befreiungsbewegungen in die Lage für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen. In den Schulen kamen sie in Kontakt mit westlichen Werten, basierend auf der christlichen Lehre und der europäischen Erfahrung von Aufklärung oder Reformation. Die Intension der Kolonialmacht war die Erziehung der Bevölkerung zu unterwürfigen Dienern und Hilfskräften auf einem niedrigen Bildungsniveau. Diese Aufgabe erfüllten Missionsschulen wie Regierungsschulen gleichermaßen. Die gleichzeitige politische Emanzipation war eine nicht-intendierte Folge, die auch eine Reaktion auf den erlittenen eigenen Kulturverlust war. Einige der Anführer der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen nach 1945 waren ehemalige Missionsschüler wie z.B. Julius Nyerere in Tansania, Jomo Kenyatta in Kenia, Kenneth Kaunda in Sambia oder Patrice Lumumba in Belgisch-Kongo (vgl. Tetzlaff 2018, S.83). Jedoch nutzen auch Schülerinnen die Ausbildung an einer Missionsschule als Möglichkeit sich zu emanzipieren und sich im Befreiungskampf zu engagieren, wie das Beispiel von Lucy Selina Lameck Somi zeigt. Lucy Lameck wurde 1934 im Kilimanjarogebiet geboren. Ihre Eltern, die politisch aktiv waren, schickten sie in die katholische Missionsschule, die von den Missionsschwestern ‚Unsere lieben Frau in Afrika‘, auch bekannt unter „Weiße Schwestern“, betrieben wurde. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwester, begann sie jedoch als Sekretärin zu arbeiten. Von 1955 bis 1957 arbeitete sie für die Kilimanjaro Native Cooperative Union und engagierte sich politisch in der Tanganyika African National Union (TANU). Sie war eine der ersten Mitglieder als die TANU eine Abteilung in Moshi eröffnete. Ein Stipendium ermöglichte ihr das Studium der Politikwissenschaften in England und Amerika. 1960 beteiligte sie sich an den ersten Wahlen und wurde durch Julius Nyerere ins Parlament berufen. Nach den Wahlen 1965 wurde sie stellvertretende Ministerin für Genossenschaften und Gemeindeentwicklung und stellvertretende Ministerin für Gesundheit. Sie führte verschiedene Gesetze ein, die die Situation der Frauen im Land verbesserten. Auch nach ihrem Tod 1993 blieb sie ein Vorbild für viele Frauen Tansanias. In Europa wird sie bis heute kaum wahrgenommen und steht im Schatten von Julius Nyerere, der das Bild der Unabhängigkeit Tansanias bis heute prägt. Ins Licht der deutschen Öffentlichkeit rückte Lucy Lameck 2021, als der Berliner Bezirk Neukölln den Namen der Wissmannstraße in Lucy Lameck Straße umbenannte. Nach langen Bemühungen des Vereins Berlin Postkolonial, der sich für die Umbenennung von Straßen oder Plätzen zur Würdigung von Opfern und Gegner*innen des deutschen Kolonialismus engagiert, erhält sie als wichtige Kämpferin für Freiheit und Frauenrechte so entsprechende Würdigung und Aufmerksamkeit im Land der ehemaligen Kolonialmacht. (vgl. TAZ 23.4.2021 und 27.11.2020; Tagesspiegel 25.11.2020) Auch wenn ein Empowerment tansanischer Männer und Frauen im Dekolonisationsprozess nicht das eigentliche Ziel der Missionsschulen war, befähigte sie dennoch die Menschen durch entsprechende Bildung, sich von der kolonialen Vormundschaft und Gewaltherrschaft zu befreien. Dies wäre jedoch erst gar nicht nötig gewesen, wenn es eine europäische Kolonialexpansion nie gegeben hätte. Im Rahmen der weltweiten Kolonisierung durch europäische Staaten hatte die Mission also die zwiespältige Rolle einer Unterstützerin sowohl für die Kolonialmächte, als auch für die Kolonisierten.
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